Spinario - Ein Dornauszieher zwischen den Welten

Dornauszieher. Gipsabguss nach einer Bronzestatue in den Kapitolinischen Museen, Rom (Inv. 1186). Die Bronzestatue ist eine römisch-spätrepublikanische Kopie eines griechischen Originals aus dem späten 3. Jahrhundert v. Chr.

 

 

Ein nackter Knabe von etwa zwölf Jahren sitzt auf einem zerklüfteten Felsstumpf. Das linke Bein hat er quer über den rechten Oberschenkel gelegt. Mit seiner linken Hand fixiert er den Spann des linken Fußes, den er mit Daumen und Zeigefinger der Rechten bearbeitet. Oberkörper und Kopf des Knaben neigen sich nach vorn über die schmerzende Stelle. Obwohl deren Verursacher nicht eigens dargestellt ist, wird das Motiv der Komposition intuitiv offensichtlich: Der Knabe ist bemüht einen Dorn aus der Sohle des aufgelegten Fußes zu ziehen.

 

Idyllische Szenen wie diese fanden stilgeschichtlich erstmals in den Genremotiven des Hellenismus (300 – 30 v. Chr.) Eingang in die antike Bildhauerkunst. Viel früher kann der Spinario also nicht entstanden sein. Wie aber lassen sich dann seine feinen Züge erklären? Die aufwändig frisierten Haare fallen gleichmäßig gewellt in den Nacken. Über der Stirn sind die Strähnen doppelt verknotet. Der Neigung des Oberkörpers folgen die Haare aber nicht, vielmehr scheinen sie an den Schläfen festgeklebt.

Des Rätsels Lösung brachte die Entdeckung einer späthellenistischen Variante des Dornauszieher-Motivs: Dornauszieher Castellani (London, British Museum, Inv. 1755). Der Knabe sitzt uns hier als Hirtenjunge gegenüber: Seine Haare sind grob gekräuselt, Gesicht und Oberkörper nehmen starken Anteil am Geschehen.

 

Der Spinario bleibt diesem naturbelassenen Motiv verbunden, reformiert es aber. Der klassizistische Künstler stilisierte die freie und angestrengte Körperhaltung des Knaben Castellani zurück in die Zeit des Strengen Stils (490 – 450 v. Chr.). Wir kennen diese Form des Bildhauens aus römischen Werkstätten des 1. Jhd. v. Chr., aus dessen Mitte der Spinario wohl stammt. Der Spinario spiegelt das artifizielle Knabenideal einer stilsicheren Oberschicht in der spätrepublikanischen Krisenzeit. Klassizismus in diesem Sinne meint also einen sehr bewussten Rückgriff auf heterogene Formen vergangener Kunstepochen. Der Spinario bewegt sich fließend zwischen diesen Welten.

 

 


Antikensaal-Mannheim

"In Mannheim angelangt, eilte ich mit größter Begierde, den Antikensaal zu sehen, von dem man viel Rühmens machte. (...) die herrlichsten Statuen des Altertums nicht allein an den Wänden gereiht, sondern auch innerhalb der ganzen Fläche durcheinander aufgestellt; ein Wald von Statuen (...)."
Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil, elftes Buch

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